Gegensätze integrieren
Oft sind wir in einem Entweder-oder-Mindset gefangen und geraten darüber in Konflikt mit anderen Personen und deren Vorstellungen und Wünschen. Doch wenn es gelingt, einen Schritt zurückzutreten und das größere Ganze zu sehen, finden sich oft neue, integrierende Lösungen. Diese Sowohl-als-auch-Lösungen schaffen Synthesen der vermeintlichen Gegenpole und der Prozess ihrer Aufdeckung schafft neue Perspektiven und Verbindungen.
Konflikte als Potentiale
“Alle Probleme, Spannungen und Schwierigkeiten sind Symptome von Weisheit, die freigesetzt werden will.”
Genau wie elektrische Spannungen sind auch Spannungen in Konflikten kraftvolle Energiepotenziale. Wenn diese Spannungen nicht umschifft, sondern mit offenem Geist angeschaut werden, finden sich oft neue Perspektiven, Erkenntnisse und Weisheiten. Dazu ist es jedoch notwendig, den eigenen Standpunkt zu hinterfragen, Neugier über die Perspektiven der Anderen mitzubringen und sich in Demut zu üben. Mit einem solch konstruktiven Vorgehen verwandelt sich das Entweder-oder eines Konflikts in ein Sowohl-als-auch. Je größer die Spannung, desto größer das Potential.
“Wir brauchen uns nicht weiter vor Auseinandersetzungen, Konflikten und Problemen mit uns selbst und anderen fürchten, denn sogar Sterne knallen manchmal aufeinander und es entstehen neue Welten.”
Charlie Chaplin
Faule Kompromisse
Es gibt einen großen Unterschied zwischen tatsächlichen Sowohl-als-auch-Lösungen und faulen Kompromissen. Sowohl-als-auch-Lösungen integrieren beide Seiten A und B, sodass sowohl A als auch B zufrieden sind. Faule Kompromisse hingegen schaffen keine Synthese beider Perspektiven, sondern entsprechen eher einen halbgaren Mittelweg, bei dem A und B ihre Ziel jeweils nur teilweise erreichen. Damit ist jedoch keine Seite richtig zufrieden und oft ergeben sich Frustration und eingeschränkte Kooperation.
Bedürfnisse und Strategien
„Alle Konflikte, Streitigkeiten, Kriege dieser Welt laufen auf der Strategieebene ab. Nachhaltig gelöst werden können sie nur auf der Bedürfnisebene“
Marshall B. Rosenberg
Der Ansatz er Gewaltfreien Kommunikation macht in diesem Zusammenhang die hilfreiche Unterscheidung zwischen Bedürfnissen auf der einen und Strategien zur Bedürfniserfüllung auf der anderen Seite. In der Regel sind es die Strategien der Bedürfniserfüllung, die in unvereinbarem Konflikt miteinander stehen, und nicht die Bedürfnisse selbst. Entsprechend lohnt es sich, die Bedürfnisse hinter den jeweiligen Verhaltensweisen und Strategien zu ergründen und dann neue Lösungsstrategien zu entwickeln, welche die Bedürfnisse aller Seiten erfüllen.
Beispiel
Nora und Christian wollen gemeinsam Urlaub machen. Nora möchte in den Alpen wandern gehen und Christian einen entspannten Urlaub am Meer machen. Sie kommen zu keiner gemeinsamen Lösung und verhaken sich in Argumenten. Nora redet von den eindrucksvollen Bergen und findet Rumliegen am Strand langweilig, während es Christian beim Gedanken an anstrengende Wanderungen graust und er nicht in Berghütten voller schnarchender Wandersleute übernachten will.
Schließlich reden sie über die Bedürfnisse hinter ihren Urlaubsvorstellungen. Nora möchte sich bewegen, Sport machen, ein bisschen Action haben, während Christian ein großes Bedürfnis nach Ruhe und Erholung hat. Diese Reflexion weitet die Perspektive der beiden und schafft neue Möglichkeiten jenseits ihrer bisherigen Vorstellungen. Schließlich findet Christian für Nora einen Kite-Surfing-Kurs in der Nähe seines Traumstrands. So kann sie durch die Wellen gleiten, während er entspannt am Strand liegt. Auf diese Weise finden sie eine Lösung, mit der beide zufrieden sind und freuen sich auf den gemeinsamen Urlaub.
Das Wertequadrat
Ein weiterer Ansatz für die Integration vermeintlicher Gegensätze ist das Wertequadrat nach Friedemann Schulz von Thun. Es lässt sich für solche Fälle anwenden, bei denen verschiedene Werte in Konflikt geraten. Demnach gibt es für jede hochgehaltene Tugend bzw. jeden Wert ein gesundes Maß, jedoch auch ein ungesundes Extrem. Sparsamkeit und Großzügigkeit beispielsweise sind wertvolle Tugenden bzw. Werte. Ihre Extremformen Geiz und Verschwendung sind hingegen eher dysfunktional.
Oft glauben wir bei Anderen solche dysfunktionalen „Untugenden“ (z. B. Geiz) zu erkennen, die mit unseren Werten (z. B. Großzügigkeit) in Konflikt stehen. Wir verurteilen diese und erkennen dabei nicht, dass der scheinbaren Untugend des Anderen ein sehr wichtiger Wert zugrunde liegt (hier: Sparsamkeit) und dass dieser Wert für uns sogar wichtig sein kann, damit wir mit unserer Tugend (Großzügigkeit) nicht in ein ungesundes Extrem rutschen (hier: Verschwendung). Beide Tugenden, Großzügigkeit und Sparsamkeit, haben ihren Wert und können einander bereichern. Mit dieser Betrachtungsweise können also vermeintlich widersprüchliche Tugenden oder Werte in einer Sowohl-als-auch-Haltung integriert und ausbalanciert werden.